Die Lyrik wird geschätzt und trotzdem kaum gelesen. Und doch braucht sie mehr denn je einen eigenen Ort. Denn indem die Lektüre von Lyrik den Wunsch nach Eindeutigkeit frustriert, lehrt uns die Lyrik, den Umgang mit Mehrdeutigkeit, etwas was wir gerade in Zeiten des Populismus wieder dringender brauchen, denn je. Sie ist Übfeld und ein Ort der Ermächtigung für den Umgang mit Mehrschichtigkeit, Vieldeutigkeit und Perspektivität. Die Welt besteht nicht aus Fakten, sie ist immer Interpretation und die Besinnung auf Wahrheit und Fakten reicht nicht aus. Und wer ein dichterisches Kunstwerk in der Uneindeutigkeit seines Sinns und in der Flüchtigkeit seiner Wahrheitsansprüche ernst nimmt und zu verstehen versucht, wird lernen, dass es nicht die eine richtige Auslegung gibt.

Lyrik ist die Kulturtechnik der Offenheit. Sie erfordert die Bereitschaft des Ausprobierens und Sich-Einlassens. Poesie ist eine Art “Pioniersprache” (Volker Demuth), sie erkundet, sie wagt sich vor und spricht auf eine Art, die wir uns sonst nicht trauen würden. Sie beschreibet keine Erlebnisse, sie macht erlebbar.

In gewisser Weise ist die Lyrik ein Gegenstück zum Informations-Business. Während Sachtexte oder Nachrichten Konsumartikel sind, die innerhalb weniger Minuten obsolet werden können und in denen die Sprache als bloße Kommunikation eines spezifischen Inhalts, als bloßes Infomationsinstrument verwendet wird, pflegt die Lyrik einen bewussten Sprachgebrauch und beansprucht überzeitliche Gültigkeit. In der Lyrik kommt die Sprache ganz zu sich selbst und sie ist nur um ihrer selbst willen da, wie so Vieles, worauf es in Wahrheit ankommt.