Lyrische Remedien
„Ein Gedicht rettet einen Tag“, Roberto Juarroz.
DREIZEHNTE VERTIKALE POESIE (52)
Heute habe ich nichts gemacht.
Aber viele Dinge geschahen in mir.
Vögel, die es nicht gibt,
fanden ihr Nest.
Schatten, die womöglich da sind,
erreichten ihre Körper.
Wörter, die existieren,
erlangten ihre Stille wieder.
Nichts zu tun,
rettet manchmal das Gleichgewicht der Welt,
indem es erreicht, dass auch etwas Gewicht hat
auf der leeren Schale der Waage.
Roberto Juarroz
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
Jan Wagner antwortete einmal auf die Frage, ob man von Lyrik leben könne mit einer Gegenfrage: „Kann man ohne sie leben? Meine Antwort:Nein!“
Aber nicht nur für Schreibende ist ein Leben ohne Lyrik nicht vorstellbar. Manchmal auch ist das Erinnern und Aufsagen eines Gedichtes eine lebensrettende Maßnahme. Mithilfe der Balladen Schillers hat die 1931 geborene Ruth Klüger als KZ-Insassin die endlosen Appelle in Auschwitz überstanden. In den NS-Lagern wurde das leise Rezitieren und Memorieren zum Überlebensmittel und Refugium. Nicht unbedingt der Inhalt der Verse, vielmehr „die Form selbst, die gebundene Sprache“ bot Halt und Stütze, wenn sie zum Beispiel stundenlang in der Sonne stand und nicht ohnmächtig wurde, weil es „immer eine nächste Zeile“ zum inneren Aufsagen gab. Gedichte haben Ruth Klüger ihr Lebtag begleitet. Poesie bezeichnete sie als „rettendes Geländer“.
Auch für Hilde Domin waren das Gedichtelesen und Gedichteschreiben im Exil „Nur eine Rose als Stütze“. So nämlich nannte sie nach der Rückkehr nach Deutschland, 1959, ihren ersten Lyrikband.
Die Literatur, besonders aber die Lyrik, hilft auch eine eigene freie Sprache zu finden. Und so ist es nicht erstaunlich, dass gerade in osteuropäischen oder arabischen Ländern, wie z. B. Polen die Lyrik eine weit wichtigere Rolle spielt als in den westeuropäischen Ländern. Sie ist geradezu existentiell in Ländern, in denen die Freiheit nicht selbstverständlich ist. Die Lyrik bietet größtmögliche Freiheit und nimmt sich das Recht, die Dinge ganz neu zu sehen und zu beschreiben.
Gedichte und Literatur müssen keine Ratgeber sein, sie können ein Gespräch mit Menschen nicht ersetzen. Aber sie können neue Räume öffnen, unsere Phantasie anregen, unser Bewusstsein für Schönheit, Vergängliches und Dauerhaftes fördern, oder uns ins unbekannte Eigene führen. Trotz ihrer Kürze sind Gedichte oft von langanhaltender Wirkung, sie sind gewichtig, auch weil sie von dem handeln, was in der Welt und uns Menschen wichtig ist.
Die Lyrik handelt auch immer von dem, was uns Menschen erst zu Menschen macht: Niedergeschlagenheit, Ungeduld, Verluste, Liebeskummer, Verzagtheit, Einsamkeit, Krankheit, Orientierungslosigkeit, aber auch von Gelassenheit, Liebe, Hingabe, dem Loslassen-Können, der Akzeptanz, dem Wachstum, dem Vertrauen und der Hoffnung, der Dankbarkeit und der Kraft.
Gedichte als Remedien, die gibt es ab jetzt als kleine lyrische Hausapotheke (Erich Kästner) als Geschenk für Andere oder für sich selbst. 10 Gedichte mit besonderen „Wirkstoffen“ in kleinen, lichtundurchlässigen Apothekenfläschchen.


